OER-Strategie des Bündnis Freie Bildung
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Ausgangslage

Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Dokuments erwacht Deutschland aus einem Leben mehrwöchiger Pandemie-bedingter Einschränkungen, die das Bildungssystem vorübergehend zum Erliegen gebracht und die bestehenden Defizite im Hinblick auf Digitalisierung schmerzhaft offengelegt haben. Die digitale Agenda von Bund und Ländern wurde jahrelang verschleppt, und es wurde versäumt, Infrastruktur bereitzustellen, die in der Krise dringend benötigt worden wäre. Durch Covid-19 scheint sich in Sachen Digitalisierung der Bildung nun aber ein Quantensprung abzuzeichnen, denken wir etwa an die vielen Lehrenden, die in den letzten Wochen ins kalte Wasser gesprungen sind und ihre Kenntnisse im Bereich des E-Learnings teils immens erweitert haben.

Diesen Impulsen müssen nun weitere Maßnahmen folgen, um eine nachhaltige und der Bedeutung der Digitalität gerecht werdende Entwicklung voranzutreiben. Ihr volles Potenzial kann die Digitalisierung der Bildung nur dann entfalten, wenn sie offen erfolgt, so dass jeder und jede auf sie zugreifen und zu ihr beitragen kann. Die im November letzten Jahres verabschiedete „UNESCO Recommendation on Open Educational Resources (OER)“ stellt einen wesentlichen Meilenstein in der Etablierung offener Bildung dar. Sie fordert von den UNESCO-Mitgliedsstaaten,

  • die notwendigen Kapazitäten aufzubauen,
  • förderpolitische Rahmenbedingungen zu entwickeln,
  • einen effektiven, inklusiven und chancengerechten Zugang zu hochwertigen OER sicherzustellen,
  • die Entwicklung zukunftsfähiger Modelle für OER zu fördern und
  • die internationale Zusammenarbeit zu unterstützen.

Der Entwicklungsstand in Deutschland

Wenn wir den gegenwärtigen Stand der Etablierung offener Bildung in Deutschland betrachten, erkennen wir verschiedene Herausforderungen. Diese liegen auf der Ebene der Materialien, der Praktiken sowie der Software und der Infrastrukturen.

Offene Lehr-/Lernmaterialien sind schlecht auffindbar, weil Inhalte bisher auf zahlreiche Repositorien und Institutionsserver verteilt sind. Es besteht noch keine einheitliche Kategorisierung für verschiedene Bildungsbereiche. Die Qualität der Materialien variiert sichtlich, da sich die Qualität von OER vor allem durch vielfache Verwendung und Verbesserung erhöht und zusätzliche Qualitätsbewertungen durch Expertinnen und Experten fehlen.

Hinsichtlich der Praktiken, freie Bildungsmaterialien zu verwenden, zu erstellen und weiterzuentwickeln, ist zu konstatieren, dass es an weitreichenden und flächendeckenden Aus- und Weiterbildungsangeboten für Lehrende aller Bildungsinstitutionen mangelt. Es fehlen (fach-)didaktisch fundierte Lernszenarien mit und durch OER. Auch gibt es klare Forschungsdefizite bezüglich der effektiven Gestaltung, Anpassung und Nutzung freier Bildungsmaterialien.

Lehrende und Lernende sind mit Software und Infrastrukturen konfrontiert, die Lernen und Lehren beschränken, statt offen, nachhaltig und gestaltbar zu sein. Durch den Einsatz proprietärer Software werden für Einzelne Hürden hinsichtlich des Zugangs und für Bildungseinrichtungen Abhängigkeiten von bestimmten Softwareunternehmen (Lock-in-Effekte) geschaffen. Es fehlt an einer bundesweit vernetzten Bildungsinfrastruktur mit offenen Schnittstellen, die die Einbindung vorhandener und von den Nutzenden bevorzugter digitaler Dienste und Werkzeuge zulässt und offen ist für Innovationen.

Fortschritte sind erkennbar

Deutschland hat in den vergangenen Jahren im Hinblick auf die Erstellung und Nutzung von OER wesentliche Fortschritte erzielt. Mit der OERinfo-Förderlinie ist das Thema in allen Bildungsbereichen bekannt gemacht worden. Durch Corona wird die Verbreitung weiter voranschreiten, wie verschiedene kurzfristige Maßnahmen zeigen, etwa die Förderung der OER-Suchmaschine „WirLernenOnline“ oder die Verdopplung der Fördermittel von 5 auf 10 Mio Euro in NRW im Rahmen der OER.content.nrw-Förderlinie . Auch wenn solche kurzfristigen Maßnahmen zu begrüßen und ein erster Schritt sind, können sie nicht eine mittelfristig angelegte Strategie ersetzen, die Entwicklungstendenzen vorgibt und damit den vielfältigen Akteurinnen und Akteuren aus unterschiedlichen Bildungsbereichen und -ebenen Orientierung bietet, so dass diese ihr Handeln daran ausrichten können. Nur so kann eine flächendeckende Öffnung der Bildung in relativ kurzer Zeit gelingen. Eine solche „umfassende Strategie“ war von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag angekündigt worden, ist bisher aber trotz mehrfacher Anläufe nicht umgesetzt worden.

Das vorliegende Papier umreißt Eckpunkte einer Strategie und definiert dabei Ziele, Prinzipien und Herangehensweisen, die aus Sicht des Bündnisses Freie Bildung beachtet werden müssen. Damit kann der sich abzeichnende Weg von OER in den deutschen Bildungsalltag in den kommenden Jahren planvoll, zügig und möglichst weitreichend beschritten werden. Das Papier soll die Strategie der Bundesregierung nicht ersetzen, die zudem ja auch mit den für Schule und Hochschule zuständigen Ländern abgestimmt werden müsste, um wirklich „umfassend“ zu sein. Aber es will den zur Verabschiedung einer abgestimmten Strategie von Bund und Ländern notwendigen Diskussions- und Abstimmungsprozess vorantreiben, Impulse geben und dazu beitragen, dass die zweifelsohne in den kommenden Jahren zu erwartenden weiteren Maßnahmen zur Förderung von OER eine stabile strategische Fundierung erhalten. Diese wurde unter Einbeziehung aller wichtigen Interessengruppen partizipativ entwickelt, wobei auch die Erwartungen der deutschen Open-Education-Bewegung angemessen berücksichtigt wurden. Nicht zuletzt will es damit proaktiv den Dialog initiieren und intensivieren und so das für die Diskussion zur Verfügung stehende Zeitfenster vergrößern.

Leitprinzipien

Bevor im Folgenden Aktionsfelder und konkrete Maßnahmen für die Etablierung offener Bildung skizziert werden, soll es in diesem Abschnitt um drei zentrale Prinzipien gehen, die aus Sicht des Bündnisses Freie Bildung die anstehende Strategieentwicklung leiten sollten.

Digitale Nachhaltigkeit: Bildung ressourcenschonend transformieren

Im Aktionsplan „Natürlich.Digital.Nachhaltig“ (2019) stellt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) klar heraus, dass die Digitalisierung zahlreiche Chancen für eine nachhaltige Entwicklung bietet: „Richtig umgesetzt kann die Digitalisierung […] umfassende soziale Innovationen ermöglichen, beispielsweise für gesellschaftliche Teilhabe, Bürgerpartizipation [oder] lebenslanges Lernen […]“ (S. 6).

Digitalisierung und nachhaltige Entwicklung sind Querschnittsthemen, die den gesamten Bildungsbereich prägen und – bei richtiger Umsetzung – mehr Teilhabe ermöglichen. Dabei werden gemeinhin drei Nachhaltigkeitsdimensionen, auch bekannt als Drei-Säulen-Modell, unterschieden: die ökologische, die wirtschaftliche und die gesellschaftliche. Diese Nachhaltigkeitsdimensionen wurden im Rahmen eines Fachgesprächs des Umweltbundesamtes (S. 47) im Jahr 2014 auf die Softwareentwicklung übertragen. Im selben Jahr formulierte Matthias Stürmer, Leiter der Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit an der Universität Bern, zehn Voraussetzungen für digitale Nachhaltigkeit, die sich auch auf den immateriellen Aspekt digitaler Ressourcen beziehen.

Diese Kriterien nachhaltiger Software können auf Bildungsinfrastrukturen angewandt werden:

  • Ökologischer Aspekt: Bildungsinfrastrukturen sind dann ökologisch nachhaltig, wenn sie möglichst geringe Hardware-Anforderungen stellen und wenig Energie verbrauchen. Bildungsinfrastrukturen müssen sich vernetzen und unkompliziert skalieren lassen, um vorhandene Ressourcen bestmöglich zu nutzen.
  • Wirtschaftlicher Aspekt: Nachhaltige Bildungsinfrastrukturen zeichnen sich durch eine modulare und auf Open-Source-Produkten basierende Architektur aus. Dadurch können Lock-in-Effekte vermieden sowie ein Austausch der verwendeten Komponenten und Interoperabilität ermöglicht werden.
  • Gesellschaftlicher Aspekt: In nachhaltigen Bildungsinfrastrukturen bereitgestellte Inhalte stehen Nutzenden ohne Zugangsbeschränkung in einem leicht nachnutzbaren Format zur Verfügung. Außerdem können diese gemäß den 5 V-Freiheiten von OEP genutzt und weiterverwendet werden.

Digital Literacies: offene Materialien und Technologien für mehr digitale Mündigkeit

Das Thema Bildung und Digitalisierung hat die Kultusministerkonferenz als eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit benannt und daher eine Strategie für eine „Bildung in der digitalen Welt“ erarbeitet. Studien wie die International Computer and Information Literacy Study (ICILS) zeigen, wie groß der Handlungsbedarf gerade in Deutschland ist. Doch auch wenn das Potenzial zur Gestaltung neuer Lehr- und Lernprozesse grundsätzlich erkannt ist, zeichnen sich die meisten der bislang entwickelten Ansätze durch einen starken Fokus auf technische Fragen aus. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur in Bildungseinrichtungen, der etwa durch den Digitalpakt Schule gelingen soll, ist ein notwendiger Baustein für eine zeitgemäße Bildung in der digitalen Welt. Doch es braucht weit mehr als digitale Technologien und technische Fertigkeiten. Nötig ist ein breiteres Verständnis von Medienkompetenz (Digital Literacies).

Für eine demokratische und partizipative Gesellschaft sind Fähigkeiten wie kritisches Denken, kollaboratives Arbeiten und kreative Teilhabe im offenen Netz essenziell. Diese persönlichen Fähigkeiten müssen gestärkt und gefördert werden. Sie sind notwendige Voraussetzungen, um in einer digital geprägten Welt souverän zu handeln und teilzuhaben. Dazu gehören Fähigkeiten wie: Daten und Informationen finden, hinterfragen, kontextualisieren oder bewerten; sich mit anderen austauschen, gemeinsam mit anderen Inhalte kreieren und an gesellschaftlichen Diskursen partizipieren. Zugleich geht es darum, ein Bewusstsein für die sich konstant verändernden Funktionsweisen digitaler Technologien zu entwickeln und kreativ Lösungen für individuelle Probleme und Herausforderungen zu finden. Dies gilt für das generelle Verständnis von zeitgemäßer Bildung, das unserer Arbeit zugrunde liegt, wie für Konzepte der Lehrkräftebildung.

Das Ziel einer Bildung in der digitalen Welt sollte also sein, Menschen darin zu unterstützen, das Netz als offene und öffentliche Ressource zu entdecken, lebenslang zu nutzen, gemeinschaftlich zu gestalten und neu zu erfinden. Denn Lernende, die gemeinsam freie Bildungsmaterialien (Open Educational Resources) entwickeln, veröffentlichen und von Lehrenden Feedback bekommen, haben mehr Möglichkeiten, Elemente der Digital Literacies auszubilden, als wenn sie Inhalte über eine App oder ein Schulbuch lediglich „konsumieren“. OER sind ein Werkzeug zur Verringerung der digitalen Spaltung, also der bestehenden Ungleichheit des Zugangs zu und der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie.

Bildungsgerechtigkeit: Open Education für mehr Teilhabe an Bildung

Eine gute Bildung ist abhängig vom sozioökonomischen Status, was in der aktuellen Krise besonders deutlich wird. Ob Lernende an Bildung teilhaben können, darf aber nicht von Geldbeutel oder Bildungsstand der Eltern abhängen. Um allen eine gute Bildung zu ermöglichen, braucht es sozialverträgliche Maßnahmen, wie offene Technologien und Lernmaterialien.

In Deutschland liegt der Anteil der Geringqualifizierten, die die Schule ohne weiterführenden Abschluss verlassen, mit 13 Prozent relativ hoch. Das kann zu gesellschaftlichen Problemen führen. Der letzte Bericht der OECD zeigt: Die Beschäftigungsquoten steigen mit dem Grad des erreichten Bildungsabschlusses. So sind nur 57 Prozent der 25- bis 34-Jährigen ohne Abschluss im Sekundarbereich II erwerbstätig. Bei den höher gebildeten Gleichaltrigen liegt die Quote bei 84 Prozent. Unabhängig von diesen ökonomischen Aspekten sinken die Möglichkeiten politischer Teilhabe, woraus sich auch Gefahren für die Demokratie ergeben. Denn Menschen mit niedrigem Bildungsstand wirken zunehmend seltener politisch mit.

Deutschland ist in den letzten Jahren vorangekommen und mit Maßnahmen wie dem Paket „Bildung und Teilhabe“ auf einem guten Weg. Aber ein chancengleiches Bildungssystem liegt noch in weiter Ferne. Mithilfe moderner Technologien wurden in den letzten Jahren weltweit neue technikbasierte Bildungsformate etabliert, deren kollektive Verfügbarkeit die soziale Ungleichheit jedoch nicht beseitigt hat. Im Gegenteil: Die Ungleichheit hat sich verstärkt, weil diese Entwicklungen sehr schnell und sehr komplex sind und die Gesellschaft Gefahr läuft, in ökonomisch-technologische Anschlusszwänge zu geraten. Mit zunehmender Bedeutung digitalen Lernens während der Corona-Krise zeigt sich, dass fehlende oder veraltete Endgeräte Lernenden den Weg ins virtuelle Klassenzimmer oder Peer-Learning unmöglich machen. Das angekündigte Sofortprogramm, das der Koalitionsausschuss am 22. April beschlossen hat, setzt hier ein gutes Zeichen.

Aber Geräte allein genügen nicht. Erforderlich sind auch die richtige Software, Infrastruktur und insbesondere Bildungsformate, die einen sinnvollen Einsatz digitaler Tools und eine auf das Individuum zugeschnittene Bildung ermöglichen.

Mit der Förderung von Open-Source-Technologien und -Materialien kann das gelingen, da sie auf Anschlussfähigkeit setzen und für die Nutzenden möglichst kostenlose Angebote schaffen. Solche freien Tools und OER sind insbesondere vor dem Hintergrund des selbst gesteuerten und binnendifferenzierten Lernens ein wichtiges Hilfsmittel. Außerdem können die gemeinsame Produktion, Nutzung und Verbreitung von OER Ungleichheitsstrukturen aufbrechen, weil sie auf dezentralen Plattformen angeboten und daher barrierefrei zugänglich sind.

Um eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen, ist eine prinzipielle Offenheit nicht nur für den Zugang zu OER von erheblicher Bedeutung. Zum Abbau struktureller Diskriminierung tragen auch die freien Gestaltungsmöglichkeiten des offenen Materials und die daraus resultierende Diversität an Bildungsangeboten bei. Infolgedessen haben OER ein großes Innovationspotenzial, das auch ihr essenzieller Vorteil gegenüber urheberrechtlich geschützten klassischen Schulbüchern ist. Dies kommt insbesondere Schülerinnen und Schülern zugute, deren Potenzial durch die klassischen Lehrwerke nicht ausgeschöpft werden kann. Zu ihnen zählen neben Menschen mit besonderen Förderbedarfen oder solchen, deren Familiensprache nicht Deutsch ist, auch Lernende mit Hoch- und Teilbegabungen. Durch zielgerichtete Förderungen und Investitionen in barrierefreie Zugänge zu Bildungsmaterialien werden letztendlich auch Wohlstand, Lebensqualität und die internationale Position Deutschlands gestärkt.

Damit werden Inklusionsansätze und konstruktivistischer Unterricht, wie in der vom BMBF dokumentierten Qualitätsoffensive „Verzahnung von Theorie und Praxis im Lehramtsstudium“ (2019) gefordert, nicht nur als abstrakte Leitidee pädagogischen Handelns vorgegeben, sondern sind in der Idee der kollaborativen Erstellung neuer Bildungsmaterialien bereits enthalten.

Aktionsfelder

Kern dieses Papiers sind konkrete Maßnahmen, die dabei helfen, Open Education, d. h. freie Bildungsmaterialien, Praktiken und Infrastrukturen, möglichst umfassend anzubieten und so eine offene Bildung zu etablieren, die möglichst vielen zugutekommt.

Öffentliches Geld, öffentliches Gut

Was mit öffentlichen Mitteln finanziert wird, soll frei nutzbar sein. So sollen Bildungsmaterialien, die mit öffentlichen Mitteln (ko-)finanziert werden, standardmäßig als OER freigegeben sowie in offenen Formaten bereitgestellt werden, um so auch für Dritte nutzbar zu sein.

Die Bereitstellung unter einer offenen Lizenz soll es allen erlauben, steuerfinanzierte Bildungsmaterialien ohne Einschränkungen zu verwahren, zu verwenden, zu verarbeiten, zu vermischen und zu verbreiten (5 V-Freiheiten für Offenheit nach David Wiley). Dies ermöglicht es Lehrenden, Zuschnitt und Umfang von Materialien besser an die Bedürfnisse der Lernenden und den jeweiligen Kontext anzupassen, sie aktuell zu halten und weltweit legal auszutauschen. Dafür sollten Nutzungsrechte verwendet werden, wie sie beispielsweise durch die Creative-Commons-Lizenzen CC BY oder CC BY-SA bzw. die Freigabe-Erklärung CC0 erteilt werden. Eine Abweichung von diesem Grundsatz sollte begründet werden müssen.

Bei allen Texten und Materialien, die von Behörden zur Verfügung gestellt werden und aufgrund der rechtlichen Vorgaben als gemeinfrei gelten, ist explizit auf diesen Sachverhalt hinzuweisen.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Dokumentationen, Grafiken, Interviews und O-Töne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks können das Lernen und Lehren bereichern. Oft ist es nutzungs- oder urheberrechtlich aber nicht möglich, die Inhalte herunterzuladen, anzupassen oder in den eigenen Unterricht aufzunehmen. Der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, ein Vollprogramm aus Information, Bildung und Unterhaltung anzubieten, muss auch für den Online-Bereich gelten. Um Menschen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, müssen die Chancen der Digitalisierung vor allem im Bereich der Bildung genutzt werden. Die Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die mit öffentlichen Geldern finanziert wurden, müssen frei lizenziert werden und somit als freie Bildungsmaterialien in formellen und informellen Bildungskontexten zur Verfügung stehen.

Sensibilisierung und Capacity Building

Damit OER in der Bildungspraxis verankert werden, ist Lernen mittels OER unerlässlich. Zum einen geht es dabei um Input zu rechtlichen Aspekten und den Umgang mit OER, zum anderen um kontinuierlichen Support bei ihrer praktischen Anwendung.

Dafür werden Aus- und Weiterbildungsprogramme für Lehrende benötigt, die die Nutzung, Erstellung und Verbreitung von OER sowie die Handhabung von Plattformen vermitteln. Die Schulung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren ist ebenfalls zu befürworten, damit bei konkret auftretenden Fragen von Lehrenden kurze Wege zu entsprechend geschulten und beratenden Kolleginnen und Kollegen genutzt werden können. Diese Maßnahmen lassen sich ausgezeichnet mit medienpädagogischen und mediendidaktischen Weiterbildungsstrukturen kombinieren, da das volle Potenzial von OER vor allem im digitalen Kontext ausgeschöpft werden kann. Ein webbasierter Rechte-Check könnte die Lehrenden und die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren unterstützen.

Darüber hinaus erfordert die Verankerung von OER in der Bildungspraxis Austausch, Peer-to-Peer-Lernen und Community Building. In den zurückliegenden Jahren wurde dies insbesondere mit regelmäßig stattfindenden OERcamps erreicht. Eine Fortsetzung und Ausweitung der Förderung solcher Austauschformate können nicht nur dazu beitragen, dass die OER Community weiter wächst. Vor allem haben OER-Akteurinnen und -Akteure so weiterhin eine Anlaufstelle, um ihre Projekte vorzustellen, die Projekte anderer aufzugreifen und gemeinsam neue und innovative offene Bildungsformate zu entwickeln. Durch diesen Ansatz werden Kollaboration und eine Kultur des Teilens praktisch erlebbar gemacht. OER sind dann mehr als nur offen lizenzierte Materialien: Sie tragen zugleich zur Entwicklung offener Bildungspraktiken bei. Hierzu sollte der bildungsbereichsübergreifende Ansatz der Informationsstelle für Open Educational Resources (kurz: OERinfo) und der bisherigen OERcamps beibehalten werden.

Herstellung von Contents

In den sogenannten Lernmittelzulassungsverordnungen ist auf Länderebene festgelegt, ob Schulbücher in einem Zulassungsverfahren geprüft und ausgesucht werden müssen oder die Auswahl der Lernmittel bei den Schulen selbst liegt. Ob sich die offene Erstellung und Lizenzierung von Lehr-/Lernmaterialien verbreiten werden, hängt maßgeblich von der Weiterentwicklung bzw. Öffnung der gängigen Entwicklungs-, Zulassungs- und Finanzierungsverfahren ab. Wir befürworten die Empfehlung von Lehrmitteln als Hilfestellung für die Auswahl, halten eine damit verbundene Beschränkung auf eine verbindliche Liste aber im Hinblick auf die Aktualisierungszyklen und die Vielfalt digitaler Lehrmittel für unzeitgemäß. Die Bundesländer sollten Lehrenden einen größeren Entscheidungsspielraum geben. Dafür sind strukturelle und kommunikative Maßnahmen erforderlich.

Einige Bundesländer verzichten bereits vollständig auf ein formales Zulassungsverfahren von Schulbüchern durch ihr Kultusministerium und überlassen die Auswahl der Lehr- und Lernmaterialien den Schulen bzw. Schulleitungen. Die Zulassungsregelungen und die Bildungsfinanzierung müssen weiter für freie Lehrmaterialien geöffnet werden, so dass OER konkurrenzfähig werden.

Impulsvorhaben für die Förderung von OER sind bereits vorhanden. Zielführend sind z. B. Ausschreibungsverfahren oder Wettbewerbe für die Erstellung von OER, wie sie bereits in Norwegen oder NRW praktiziert werden. Die Digitalisierungsoffensive des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen ist ein positives Beispiel für die Förderung der Produktion digitaler Lehr- und Lernangebote. Die Förderlinie „OERContent.nrw“ ermöglicht den betreffenden Hochschulen einen Vorsprung beim Gelingen zeitgemäßer Bildung, der nun durch abgestimmte Programme und die Förderung weiterer Länder und Ministerien aufgeholt werden muss. Eine Förderung von Strukturbildung ist dabei sinnvoller und nachhaltiger als die Unterstützung weniger konkreter Projekte zur Contentproduktion. Lehrende, die OER erstellen, kuratieren oder verwalten, sollen aktiv durch Abminderungsstunden unterstützt werden. Ebenso soll die OER-Erstellung auf das Lehrdeputat von Hochschullehrenden anrechenbar sein. Es sollen Anreize sowie rechtliche und infrastrukturelle Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit die von Lehrenden entwickelten Texte und Lehrmaterialien standardmäßig als OER bereitgestellt werden können. Dafür sind Formate nötig, mit denen die Lehrenden effizient und qualitativ hochwertig arbeiten können. Dazu eignen sich kollaborative Formate, wie die OERcamp Werkstatt oder der edulabs edusprint, in dessen Rahmen ein erfahrenes Fachpublikum in gemischten Teams innerhalb eines kurzen Zeitraums konzentriert gemeinschaftlich Materialien erstellt, sichtet und diskutiert. Solche Peer-Review-Verfahren tragen entscheidend zur Qualitätssicherung von OER bei.

Infrastruktur

Die Ausstattung und Infrastruktur an Schulen, Hochschulen und in der Weiterbildung sind zentrale Themen und stehen im Kontext der Covid-19-Krise besonders im Fokus. Auch die langfristige Finanzierung und Wartung sowie der Datenschutz sind grundlegende Probleme, die Bildungsträger vor große Herausforderungen stellen. Die Verwendung von Open-Source-Technologien in Verbindung mit lokalen Service-Einrichtungen wie Landesmedienzentren kann hier insofern Abhilfe schaffen, als Daten transparent und lokal gespeichert werden, und zwar an bereits bestehenden Einrichtungen. Open-Source-Technologien passen von der Idee und der Ausrichtung her gut in eine moderne, selbst organisierte und lernende Schule, indem sie die Eigenverantwortlichkeit stärken und unabhängig machen. Das BMBF sollte Anschaffungen, die im Rahmen des Digitalpakts oder ähnlicher Maßnahmen gefördert werden, mit entsprechenden Empfehlungen versehen.

Neue, innovative Lehr- und Lernprozesse werden häufig im Zuge des Experimentierens  entwickelt. Lehrende und Lernende sollten deshalb verstärkt darin unterstützt werden, im Sinne des lebenslangen Lernens neue Ansätze zu erproben. Schulen, Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen brauchen daher nicht nur die Infrastruktur zur Unterstützung etablierter E-Learning-Ansätze (wie z. B. Learning-Management-Systeme, Repositorien und Suchmaschinen), sondern auch Infrastrukturen, die es ermöglichen, kurzfristig und flexibel auf die spezifischen Anforderungen einzelner innovativer Projekte zu reagieren. Für die Realisation dieser Vorhaben braucht es Lern-, Publikations- und Kommunikationstools.

Open-Source-Technologien sind nicht nur für infrastrukturelle Aspekte zentral, sondern auch für die Herausbildung von Kompetenzen bei Lernenden: Die formale Lehre steht vor der Herausforderung, zeitgemäße Kompetenzen zu vermitteln, insbesondere auch für den digitalen Raum. Das geschieht allerdings häufig mittels einer digitalisierten Bildung, die sich auf den Ersatz von Lehrmitteln beschränkt. Weit weniger werden Fähigkeiten gefördert, die über die Anwendung von Tools hinausgehen. Erforderlich ist eine „offene Technologiebildung“, also Ansätze, die die technische Funktion in den Mittelpunkt stellen und einen selbstbestimmten Umgang mit Technologie fördern.

Um die nötigen Kompetenzen von Bildungseinrichtungen nicht überzustrapazieren, sind offene Räume unerlässlich, in denen Lernende und Lehrende sich selbstbestimmt mit Technologie auseinandersetzen können, um eigene Zugänge zu entwickeln. Solche Zugänge ermöglichen deutschlandweit zahlreiche außerschulische Bildungsangebote wie Offene Werkstätten, Bibliotheken oder mobile Projekte. Um die Zusammenarbeit zwischen Schulen, Fortbildungseinrichtungen und solchen Orten zu fördern – einerseits als schulisch-außerschulische Lernorte, andererseits aber auch als Fortbildungsstätten für Lehrende –, sind strukturelle Anreize erforderlich.

Qualitätssicherung

Qualitätssicherung von OER ist ein Thema, dessen Bedeutung in der deutschen und internationalen Diskussion über OER häufig betont wird. Grundsätzlich ist wichtig, dass bei der Herstellung von OER sowohl alle etablierten Qualitätssicherungsverfahren (z. B Lektorat, Peer Review) zum Einsatz kommen können als auch zusätzliche neue Verfahren wie etwa das Einsammeln von Nutzerfeedback mittels digitaler Bewertungssysteme und die direkte Anpassbarkeit von Ressourcen durch die Nutzenden. So gliedert Qualitätssicherung sich in Kriterien, Formate und Nutzungsszenarien auf. Bislang wird die Diskussion oft zu undifferenziert geführt und berücksichtigt zu selten die mit dem Einsatz von OER verbundenen unterschiedlichen Zielsetzungen in ausreichendem Maß. Was hochqualitativ ist und was nicht, hängt immer vom jeweiligen Einsatzzweck ab. Es liegt deshalb nahe, bei der Herstellung freier Lehrbücher für den flächendeckenden Einsatz in Schulen andere Qualitätsmaßstäbe anzulegen als etwa bei studentischen Publikationsprojekten, bei denen der Schwerpunkt u. U. weniger auf der produzierten Ressource als der im Zuge ihrer Erstellung erzielten Lernerfahrung der Studierenden liegt. Bei der Definition notwendiger Maßnahmen sollte also immer mit Augenmaß agiert und sichergestellt werden, dass der Qualitätssicherungsprozess zu den mit der Publikationsform verfolgten Zielen passt. Kernelemente einer zielführenden Qualitätssicherung sind daher das Testen und Evaluieren verschiedener Qualitätskriterien für unterschiedliche Formate und Kontexte.

Urheberrecht

Lehrende und Lernende brauchen auch den Zugang zur zeitgenössischen Kultur. Ausnahmen vom Urheberrecht müssen daher Teil der Nutzerrechte im Bildungsbereich sein. Um das Lehren und Lernen in jedem Rahmen und zu jedem Thema gelingen zu lassen, ist es nötig, alle möglichen Materialien – auch solche, die noch durch das Urheberrecht geschützt sind – für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. Um einen rechtssicheren Unterricht zu gewährleisten, ist eine internationale, weit gefasste Ausnahmeregelung erforderlich, die es allen erlaubt, alle Arten von Inhalten (analog und digital) für Bildungszwecke zu verwenden, zu kopieren und umzuwandeln. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, eine (zumindest europaweite) einheitliche Lösung zu finden.

Die in letzter Zeit getroffenen Maßnahmen zur Reform des Urheberrechts für Bildung und Wissenschaft sind zu begrüßen, aber nicht ausreichend, um die spezifischen Potenziale digitaler Bildung vollständig zu nutzen. Um die Anforderungen digitaler Bildung mit der Autonomie der Urheberinnen und Urheber in Einklang zu bringen, wird es auch in den kommenden Jahren unumgänglich sein, den begonnenen Weg der Nutzung offener Lizenzen fortzuführen und auszuweiten. In diesem Zusammenhang ist der von Creative Commons bereitgestellte Lizenzrahmen hervorzuheben, der sich in den letzten Jahren in der Praxis bewährt hat und international anschlussfähig ist.

Wirtschaftlichkeit

Investitionen in geschlossene und proprietäre Systeme erschweren oder verhindern langfristig freie Bildung und stellen Abhängigkeiten her. Bildung ist ein Gemeingut und sollte daher allen zugänglich sein. Eine entsprechend wichtige Rolle spielt der Aufbau von öffentlich geförderten Strukturen. Die Förderung von Bildung als Gemeingut kann im Gegenzug dazu beitragen, soziale Bildungsungleichheit zu verringern und gesellschaftliche Partizipation zu stärken. Diese Entwicklung wird durch den aktuellen Handlungsdruck aufgrund der Corona-Pandemie noch verstärkt.

Die Entwicklung und Bereitstellung von OER bedürfen einer soliden finanziellen Grundlage. Dies kann durch Bereit- oder Freistellung personeller Kapazitäten oder durch die direkte Finanzierung der OER-Produktion gewährleistet werden. Ausschreibungen und Förderprogramme sollten als Ergebnis offen lizenzierte Materialien in offenen Dateiformaten fordern, finanzieren und so deren freie Nutzung und Weiterbearbeitung ermöglichen.

Forschungsförderung 

Open Education ist mit einer Reihe von Versprechen, etwa der Öffnung und Demokratisierung von Bildung, verbunden. Um die Wirkung von OER und offenen Bildungspraktiken jenseits idealistischer Vorstellungen messen zu können, ist Grundlagenforschung erforderlich, am besten in enger Zusammenarbeit von Wissenschaft und OER Community. Das könnte so aussehen, dass in einem ersten Schritt relevante Forschungsfragen (für jeden Bildungsbereich sowie übergeordnet) von der Community formuliert und auf einer Webseite gesammelt und diskutiert werden. In einem zweiten Schritt könnte darauf aufbauend ein abgestimmtes Förderprogramm initiiert werden: Interessierte Personen könnten sich um die Bearbeitung einer oder mehrerer Forschungsfragen bewerben. Eine aus der Wissenschafts- und OER Community stammende Jury würde Projekte auswählen und dem BMBF zur Förderung empfehlen. Vorbild hierfür sind Programme wie der Prototype Fund.

Datenschutz

Bei der Nutzung von OER und im Kontext einer offenen Bildungspraxis findet Lehren und Lernen häufig im Internet statt. Hierzu werden Tools z. B. für die Kollaboration benötigt. Gerade für den schulischen Einsatz und für ein offenes, freies Arbeiten im Netz ist dabei entscheidend, dass Datenschutz gewährleistet ist. Um dies zu ermöglichen, sollten zum einen der Ausbau von Open-Source-Software für Bildungszwecke gefördert und Bildungsinstitutionen bei der lokalen Bereitstellung und Wartung entsprechender Tools unterstützt werden. So wäre sichergestellt, dass Daten auf den jeweils eigenen Servern liegen; zudem wäre die Datenverwendung durch den öffentlich zugänglichen Code für alle transparent. Zum anderen könnten Initiativen wie z. B. tosdr.org ausgebaut werden. Sie ermöglichen Lehrenden einen schnellen Überblick über die Nutzungsbedingungen bestimmter Tools, indem diese klar und übersichtlich klassifiziert und mögliche Schwachstellen benannt werden. Auf diese Weise könnte zu einem reflektierten und datenschutzkonformen Umgang mit Webtools beigetragen werden.

 

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